„Ein Mann hat einen Plan.“

20 Jahre Kinderorthopädie mit Herz und Enthusiasmus am Ende der Welt – das Lebenswerk von Dr. Jürgen Zippel

Als Jürgen Zippel sein Berufsleben mit 64 beendete, tat er das nicht, um sich zur Ruhe zu setzen, sondern, um einen Lebensplan zu verwirklichen, der zum Höhepunkt seines beruflichen Lebenswerks werden sollte.

Den Entschluss hate er bereits 1969 gefasst, als er als frisch gebackener Medizinalassistent, für ein Jahr in einem afrikanischen Provinzkrankenhaus in Liberia, West-Afrika, tätig war. Dort sah er, wie groß das Leid in medizinisch unterversorgten Regionen sein kann, und wie wichtig es ist, dort Hilfe zu leisten. Er sah aber auch, dass fachliches Know-How und Erfahrung dafür unverzichtbar sind. So beschloss er, sich diese Fähigkeiten erst anzueignen, bevor er selbst dort Hand anlegt. Seine medizinischen Stationen führten ihn vom Hamburger Hafenkrankenhaus und Tropeninstitut über München in die Schweiz wieder zurück nach Hamburg. Nach mehrjähriger Tätigkeit in der orthopädischen Uniklinik Eppendorf setzte er – gemeinsam mit Kollegen – 1976 seine Tätigkeit in einer orthopädischen Praxis in Altona fort. Als Belegarzt operierte er seine Patienten am Altonaer Kinderkrankenhaus.

Nach 25 Jahren schied Jürgen Zippel aus der Praxis aus und begann mit der Umsetzung seines damals gefassten Lebensplans: Es sollte eine Klinik für Kinderorthopädie werden in einer medizinisch nicht gut versorgten Gegend. Es musste doch nicht unbedingt Afrika sein, und es sollte idealerweise am Meer liegen.

So streckte er die Fühler aus und kam in Kontakt mit dem Verein Patengemeinschaft für hungernde Kinder e.V., der 1965 von dem kriegsversehrten Postboten Adolf Klein aus Sahms bei Hamburg gegründet worden war und bereits mehrere Kinderheime im Süden Indiens betrieb. Der damalige Vereinsvorsitzende Dieter Hüske ließ sich von der Idee überzeugen, auf einem Stück Land am südlichen Zipfel des Subkontinents- neben drei Waisenheimen auch eine kleine Klinik zu errichten. Mit großzügiger Finanzierung der ALH-Versicherungsgesellschaft und vielen anderen tatkräftigen Unterstützern schaffte es Jürgen Zippel, diese Idee Schrit für Schrit umzusetzen. Und so ließ er unter persönlicher Bauaufsicht aus einer Palmdachhüte heraus – in der er während der Bauzeit wohnte – eine Klinik nach seinen Vorstellungen errichten. Im Jahr 2002 wurde das Children Orthopedic Center (COC) in Mylaudy als ein medizinisches Projekt der Patengemeinschaft eröffnet. Dazu gehört ein Hauptgebäude, mit einer Ambulanz, einem Untersuchungs- und Gipszimmer, einer Röntgenabteilung und Orthopädiewerkstat, sowie Wohn- und Gästezimmer; ein Nebengebäude mit einer Betenstation für 15-20 Patienten, einem großzügigem Physiotherapieraum, und einem Therapieschwimmbad; des Weiteren eine Küche mit überdachtem Essplatz, ein Hühnerstall und zwei Rundhüten für Gäste verteilt in einem großzügigen, von ihm angelegten tropischen Garten; das Ganze mit Blick auf Reisfelder, einen See mit Lotusblüten und am Horizont die Ausläufer des Westghat Gebirges.

Von da an kam Jürgen Zippel alljährlich über die Wintermonate-von Oktober bis März- nach Südindien und baute seine Klinik weiter auf. Er suchte sich indische Mitarbeiter, denen er vertrauen konnte, und bildete diese über die Jahre aus.

Seine Frau Neva, selbst erfahrene Krankenschwester und Menschenkennerin, unterstützte ihn und stand ihm über all die Jahre mit Rat und Tat zur Seite und begleitete oder besuchte ihn immer wieder am anderen Ende der Welt.

Bald wurde die Klinik zu einer Anlaufstelle für Patienten mit Erkrankungen des Bewegungsapparats. Es sprach sich schnell herum, dass dort bei Menschen mit unbehandelter Polio teils lebensverändernde Operationen durchgeführt werden. Das Spina bifida Patienten wurden mit Hilfsmiteln versorgt und Kinder mit Klumpfüßen, krummen oder zu kurzen Extremitäten konnte mit Gipsen oder äußeren Eisenstangen auf die Beine geholfen werden. So kamen die Patienten aus der gesamten Region, um den medizinischen Rat und die Expertise des German Doctors aufzusuchen.

Hinter all diesen Erkrankungen stecken Geschichten und Schicksale, denen durch das Engagement von Jürgen Zippel oftmals ein Stück Lebensqualität und Würde geschenkt wurde.

Aber auch die indischen Mitarbeiter motivierte der Zippel Doktor auf beispiellose Art und Weise und hielt sie bei der Stange, so dass sich das Zentrum über die Jahre als einzigartiges Therapiezentrum für Kinder mit Fehlbildungen und Behinderungen einen guten Ruf aufbaute. Das indische Team des COC empfing ihren Chef und seine Kollegen jedes Jahr mit großer Herzlichkeit. Unterstützung fand er dabei über viele Jahre durch das Ärzteehepaar Meike und Jörge Ropohl, die meist zu Beginn der Saison Patienten voruntersuchten und den anstehenden Einsatz vorbereiteten.

Ziel war es, die orthopädische Behandlung vollständig und nach möglichst hohem Standard anzubieten. Für die operativen Eingriffe suchte sich Dr. Zippel als Kooperationspartner eine private Unfallklinik in der nächstgelegenen Stadt Nagercoil mit guten hygienischen Standards, einer akzeptablen Ausstatung und einem kompetenten Anästhesisten. Die Weiterbehandlung erfolgte dann in seinem Zentrum in Mylaudy mit medizinischer Pflege durch die indische Krankenschwester Shyla, die eine weitere tragende Säule und Herz des Projekts in Indien wurde. Die intensive physiotherapeutische Nachsorge erhielten die Patienten vom deutsch-indischen Team. Hierfür wurden Jahr für Jahr Fortbildung, auch zentrumsübergreifend, in spezieller Kindertherapie gegeben. Die orthopädietechnische Hilfsmitelversorgung erfolgte mit teils vor Ort hergestellten, teils gespendeten und wieder verwerteten Orthesen.

Jürgen Zippel war es wichtig, medizinische Hilfe für die arme Bevölkerung ohne finanzielle Gegenleistung anzubieten. Um das zu ermöglichen, trieb er in den Sommermonaten u.a. durch Vorträge die nötigen Spendengelder ein, organisierte mehrmals die Verschiffung von Containern mit Hilfsgütern ans Ende des Subkontinents und bereitete den nächsten Einsatz vor. Er erhielt dabei Unterstützung von Ärzten und Therapeuten aus Deutschland und der Schweiz, die ihn bei seiner Tätigkeit vor Ort mit Rat und Tat zur Seite standen. Er betonte immer wieder: „ohne die Hilfe meiner Kollegen häte ich das Projekt nie so umsetzen können“. Die Entscheidungen traf er jedoch fast immer selbst. Er wusste über die Jahre am besten, was sich von dem Wunsch der fachlich erstrebenswerten Medizin unter den gegebenen Bedingungen und kulturellen, klimatischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten tatsächlich umsetzen ließ.

Jürgen Zippel hate viele Visionen, so entstand z.B. ein Frauen Empowertment Center, was bis heute unter dem Namen Arche Noah erfolgreich fortgeführt wird. Er kümmerte sich um eine bessere Allgemeinbildung der Heimkinder und er träumte davon, ein Zentrum für Patienten mit Arthrogryposis multiplex congenita (AMC), einer seltenen angeborenen Erkrankung des Bewegungsapparates, aufzubauen. Zeugnis von seinem Wissensdurst lieferte auch eine umfangreiche medizinische Fachbibliothek, die bis heute in seinem Doctors office beheimatet ist.

2016 zog sich Jürgen Zippel aus der Leitung der orthopädischen Klinik zurück und übergab diese vorübergehend an mich. So verbrachte ich drei prägende Monate gemeinsam mit meiner Familie in Südindien. Die Verwaltung und Pflege des Zentrums wurde an eine indische Non Government Organisation übergeben, die vertreten durch den Sozialwissenschaftler Dr. Johnson Raj, das Childrens Orthopedic and Rehabilitation Center (CORC) unter dem Dach der Patengemeinschaft seither weiter betreibt.

Um die medizinische Versorgung der Patienten zu gewährleisten, bildeten wir in den vergangenen Jahren ein Team aus Ärztinnen und Physiotherapeutinnen aus Hamburg und Berlin, das unter der Federführung von Dr. Nicola Ebert die kinderorthopädische Tätigkeit von Jürgen Zippel mit gestaffelten Einsätzen in Südindien seither bereits fortührte und das auch für die Zukunft plant.

Sein Lebenswerk werden wir gerne fortsetzen, wohl wissend, dass die Art, wie er es gelebt und uns vorgelebt hat einzigartig war.

Ein Visionär, ein Mann der Taten, aber dabei stets realistisch, bedacht, sorgfältig, unprätentiös, humorvoll, kritisch und auch selbstironisch, ein guter und mutiger Chirurg, dabei ein menschlich herausragender, empathischer und pragmatischer Arzt, das war Dr. Jürgen Zippel.

Alle, die wie wir das Glück haten mit ihm gemeinsam zu arbeiten und an seinem Projekt teilhaben durften, werden ihn unendlich vermissen!

Dr. Katja v. d. Busche, Dr. Nicola Ebert, Dr. Anja Helmers und die Physiotherapeutinnen Ragna Marks, Isabelle Hügenell und Karin Determann für das gesamte Mylaudy Team